Der Schatten
Unruhig stand Martha an der Ampel. Sie fühlte sich nicht wohl. Viel lieber wäre Martha in ihrem Heimatdorf. Aber sie durfte nicht zurück. Dort würde er sie finden. Er, das war der Schatten, der sie bedrohte. Er liebte und wollte sie. Er nannte sie seine Taube. Dass sie einen Freund hatte, ging ihm nicht in den Kopf hinein. Aus Liebesbriefen wurden Drohungen. Furcht war ihr beständiger Begleiter gewesen, sie wusste, dass er sie irgendwann schnappen könnte. Ruhe kehrte erst ein, als sie unter neuer Identität nach Köln zog. Ein Passant rempelte sie unsanft. Martha erschrak, das süßliche Rasierwasser rief grauenhafte Erinnerungen hoch. Ohne sich umzudrehen, hastete sie nach Hause.
„Ruhig, er war es nicht, er war es nicht.“, versuchte sie sich zu beruhigen.
Sie zog die Jacke aus, ein goldener Schlüssel und ein Zettel fielen aus der Tasche heraus. Am Schlüssel war ein Vogelkäfig, in der eine Taube saß als Anhänger befestigt. Martha schlug sich die Hand vor dem Mund. Das konnte doch nicht wahr sein. Wie hatte er sie gefunden? Panisch ergriff sie das Telefon, rief Kommissar Wolf an. Er war immer mit Rat und Tat zur Stelle für sie gewesen.
„Wolf am Apparat. Was kann ich, … Oh Martha, Sie klingen…, wie er hat… Ganz ruhig. Sagen Sie mir, wo Sie sind und ich hole Sie ab.“
Erst im Wagen, atmete Martha auf. Sie sah zum Kommissar hinüber. Ihr Blick blieb starr vor Schreck am Rückspiegel haften. Eine goldene Taube baumelte dort, neben ihr ein Käfig.
(Lucy Engel, Autorin aus Luxemburg)
(Nicht) allein zuhause
Nele war das, was man früher etwas abfällig als „Schlüsselkind“ bezeichnet hatte. Aber heutzutage gab es viele wie sie, die niemanden hatten, der sie zuhause erwartete. Wohnung, Auto und Urlaubsreise wären unbezahlbar, wenn nur ein Elternteil arbeiten ginge. Nele war alt genug, das zu verstehen, aber wenn die Eltern ausgerechnet über Weihnachten arbeiteten, machte es ihr trotzdem zu schaffen. Sie sah sich in der geschmückten Wohnung um, festliche Stimmung kam dabei nicht auf.
Zum Glück hatte ihre Freundin Sonja, die gerade als Au-pair in Kanada war, die rettende Idee gehabt. Ganz nebenbei ergab es ein fantastisches Weihnachtsgeschenk für ihre geliebte Oma, die sie viel zu selten sehen konnte. Mit einem heißen Tee, einem Teller voll Weihnachtsplätzchen und ihrem Laptop machte sie es sich im Wohnzimmer bequem, bis der erwartete Teilnehmer im Videochat auftauchte.
„Hi, Omi!“ Nele grinste ihre verblüfft dreinschauende Großmutter vergnügt an. „Coole Sache, oder?“
„Kindchen, ich kann es kaum glauben! Ich dachte, der Jens übertreibt, als er mir hier alles eingerichtet und so davon geschwärmt hat, aber das ist ja wirklich unglaublich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was es alles gibt! Und vor allem, warum haben wir das nicht schon viel früher angefangen? Das ist ja viel besser als einfach nur zu telefonieren. Warst du beim Friseur?“ Die Oma rückte so dicht an die Kamera, dass Nele nur noch ihre Augen sehen konnte.
„Nee“, kicherte sie. „Hab ich selbst gefärbt.“ Sie kuschelte sich tiefer in den Sessel und freute sich auf einen schönen Heiligabend zu zweit.
(Anathea Westen)
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