Lilli-Lu rettet die Geschichten
„Bitte noch eine Geschichte“, bettelte Lilli-Lu, aber ihre Mutter klappte das Buch zu und schüttelte den Kopf.
„Nein, das geht nicht. Das habe ich dir doch schon so oft erklärt.“ Sie strich ihr sanft übers das Haar. „Alles hat seine Zeit, und nach der Geschichte kommt nun einmal das Schlafen.“
Aber Lilli-Lu wollte nicht schlafen. Es gab noch so viele spannende Abenteuer, von denen sie bisher nichts wusste. Sie waren in all den Büchern aufgeschrieben, die überall auf der Welt darauf warteten, von jemandem gelesen zu werden. Wer konnte denn da an Schlaf denken?
„Pst!“
Lilli-Lu saß senkrecht in ihrem Bett und schaute sich erschrocken um. Das Licht, das von der Straßenlaterne in ihr Zimmer fiel, reichte aber aus, um zu sehen, dass niemand hereingekommen war. Sie legte sich wieder hin, um weiter darüber nachzudenken, wie lange sie brauchen würde, um wirklich jedes einzelne Buch zu lesen.
„Pst! Hörst du mich?“
Sie glaubte nicht an Monster, die nachts unter den Betten lauerten, deshalb hängte sie sich mit dem Oberkörper über die Bettkante, bis ihre langen Haare auf dem Teppich ausgebreitet lagen und sie kopfüber in die Dunkelheit unter ihren Bett spähen konnte. Ganz finster war es aber dank der Straßenlaterne auch dort nicht, und sie erkannte sofort, wer dort saß.
„Bruno?“
Ihr alter Teddybär brummte erfreut und nickte. „Du hast mich also noch nicht ganz vergessen.“
Ich muss träumen, dachte Lilli-Lu, aber laut sagte sie: „Seit wann kannst du denn sprechen? Und dich bewegen?“
Bruno seufzte nur und kam unter dem Bett hervorgekrabbelt, so dass Lilli-Lu sich aufsetzen konnte. „Das konnte ich schon immer, und früher wusstest du das auch. Alle kleinen Kinder wissen, dass ihre Kuscheltiere lebendig und ihre Freunde sind. Aber irgendwann kommt die Zeit, da vergessen sie uns. Es ist der schrecklichste Tag im Leben eines Kuscheltiers, wenn das Kind einen plötzlich anschaut und nur noch ein Ding in einem sieht. Eben noch bespricht es die wichtigsten Geheimnisse mit einem, doch dann ist man nichts als ein Gegenstand unter vielen.“
Lilli-Lu hörte den Schmerz in seiner tiefen Brummstimme, und bevor sie sich versah, hielt sie ihn im Arm, um ihn zu trösten. Und ganz plötzlich konnte sie sich wieder daran erinnern, wie oft sie ihn auf diese Weise gehalten hatte, aber nicht sie war die Trösterin gewesen. Unzählige Male hatte er ihren Kummer gelindert, indem er ihr ins Ohr gebrummt hatte, dass alles wieder gut werden würde. Die zerbrochene Lieblingshaarspange, der unerfüllte Weihnachtswunsch nach einer Katze, die nicht ausgesprochene Einladung zu Lenas Geburtstagsparty… All das hatte so geschmerzt, aber Brunos Trost hatte ihr darüber hinweg geholfen.
„Ich hätte dich nicht erinnern dürfen“, unterbrach der treue Teddy ihre Gedanken. „Aber ich brauche deine Hilfe. Die Welt der Kuscheltiere ist in Gefahr.“
„Was kann ich denn tun, um euch zu helfen?“ Lilli-Lu war immer noch fest davon überzeugt zu träumen, und deshalb war sie gerne bereit, sich auf ein kleines Abenteuer einzulassen.
„Es ist ganz einfach - du musst nur dein Märchenbuch mitnehmen und jemandem etwas vorlesen.“ Mit seinen weichen Teddypfoten packte Bruno sie an der Hand, um sie zur Eile zu drängen, aber Lilli-Lu schüttelte den Kopf.
„Das Märchenbuch steht wie alle anderen Bücher im Wohnzimmerregal. Mama hat mich ein paarmal dabei erwischt, wie ich heimlich gelesen habe, obwohl ich schlafen sollte. Seitdem müssen abends alle Bücher in das Regal gestellt werden.“
Bruno zog an ihrer Hand. „Erwachsene übersehen Kuscheltiere, weil sie uns für unwichtig halten. Wenn du meine Pfote hältst, können wir direkt an ihr vorbeigehen und uns das Buch schnappen, ohne dass sie etwas bemerkt. Komm, du wirst schon sehen…“
Es funktionierte tatsächlich! Sie hielt die Pfote von Bruno fest umschlungen, als sie das Märchenbuch ganz vorsichtig aus dem Regal zog und dann leise in den Flur schlich. Behutsam öffnete sie die Badezimmertür, schlüpfte hindurch und schloss sie hinter sich.
„Schnell, knips das Licht an“, brummte Bruno aufgeregt. „Dann sind wir auch schon da!“
„Was? Ich soll hier im Badezimmer laut vorlesen? Das hört Mama doch, und dann kriege ich richtig Ärger.“ Lilli-Lu zögerte, aber als der Teddy in ihrem Arm ungeduldig zappelte und ‚Nun mach doch endlich‘ rief, drückte sie auf den Schalter. Zuerst blinzelte sie geblendet, doch dann riss sie die Augen weit auf. Von einem Bad war weit und breit nichts zu sehen – sie stand mit Bruno und Märchenbuch mitten auf einer sonnenbeschienenen Lichtung. Und sie waren nicht allein! Erschrocken starrte Lilli-Lu den mächtigen Löwen an, der unruhig auf und ab schritt.
„Das ist unser König“, wisperte Bruno in ihr Ohr. „Seit Wochen ist er schlecht gelaunt, und es wird von Tag zu Tag schlimmer.“
„Warum denn das?“, flüsterte sie zurück, aber leider nicht leise genug, denn der Löwe fuhr herum und brüllte: „WARUM? Weil unsere Welt langsam, aber sicher untergeht, darum! Kinder interessieren sich heute nicht mehr für all die Geschichten, die umherfliegen und erzählt werden wollen. Sie sitzen lieber vor dem Fernseher, dem Computer…“ Er schüttelte seine Mähne, ließ sich den Schatten eines Baumes fallen und seufzte. „Wir können nur noch auf das Ende warten.“
„Nein, nein“, meldete sich Bruno eifrig zu Wort. „Meine Freundin Lilli-Lu liebt Geschichten. Am liebsten würde sie sie alle kennenlernen.“
Lilli-Lu nickte, obwohl sie sich fragte, wie das gehen sollte. „Das stimmt, am liebsten würde ich immer und überall lesen. Obwohl ich jetzt eigentlich schlafen sollte.“
„Hm“, machte der König und sah schon etwas entspannter aus. „Nun gut, dann setz dich zu mir. Wenn du jede Nacht zur Märchenstunde vorbeikommst, dann schaffen wir es vielleicht doch noch, dass die Geschichten bei uns bleiben und nicht im Nirgendwo verschwinden.“
Sie gehorchte und stellte verblüfft fest, dass auf einmal ganz andere Märchen in ihrem Buch standen. „Das Märchen vom verliebten Eselchen“, las sie vor und verfolgte dann genauso gespannt wie ihre Zuhörer, was der kleine Esel erlebte, bevor er sein Glück fand.
Abend für Abend schlich sie nun mit Hilfe von Bruno in das Land der Kuscheltiere und machte damit nicht nur den Löwenkönig glücklich. Denn sie selbst lernte mehr Geschichten kennen, als sie jemals für möglich gehalten hätte.
(Anathea Westen)
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