Blumenmond
„Ich verstehe nicht, warum wir nicht endlich weiterziehen können. Will Rune abwarten, bis wir vor lauter Langeweile gestorben sind?“ Dinka zog, wie schon die Tage zuvor, ihre Runden um den Brunnen, an dem sich an schönen Tagen wie diesem ein Großteil der Gefährten versammelt hatte. „Hat er denn gar nichts gesagt?“, fragte sie Keti und Norgon, als sie an den beiden Kriegern vorbeiging, die in aller Seelenruhe ihre Waffen polierten. Die Antwort bestand lediglich aus einem Kopfschütteln, was sie noch mürrischer werden ließ. Gronte brauchte sie gar nicht zu fragen, denn der junge Chronist lag seit Tagen nur noch in der Sonne herum und studierte seine Notizen. Dabei hatte Dinka gehofft, dass wenigstens er sie auf ihren Streifzügen durch die verlassenen Räumlichkeiten begleiten würde. Doch seit sie auf dieser Burg angekommen waren, schien sein Wissensdurst versiegt zu sein. Sie wandte sich Jiris zu, der jedoch sogleich abwinkte.
„Bin aus dem Spiel, Kleine. Weiß gar nicht, wie oft ich dir noch sagen soll, dass du ein Instrument lernen solltest.“ Ihr böser Blick entlockte ihm ein breites Grinsen. „Dann haste was zu tun.“
Als endlich Rune und Sree-Balan aus den Schatten der verlassenen Räume auftauchten, wollte Dinka schon anfangen, die beiden mit Fragen zu löchern, als ihr Blick Keti, Norgon und den Gaukler streifte. Alle drei schienen nur darauf zu warten, dass sie sich eine ordentliche Abfuhr einhandelte, und so streckte sie ihnen die Zunge heraus und schwieg. Was ihr verdammt schwerfiel, zumal die drei nun auch noch breit grinsten. Doch seltsamerweise wurde ihr Schweigen belohnt. Während dem Sternen-Elb keine Regung anzusehen war, sprudelte der sonst so schweigsame Rune fast über.
„Es hauste tatsächlich eine Roya in diesen Gemäuern“, rief er und brachte damit die bis dahin so entspannt herumsitzenden Krieger schlagartig auf die Beine. Seinen Nachsatz, dass sie inzwischen wohl verschwunden sei, schien niemand als echte Beruhigung aufzufassen.
„Was ist eine ‚Roya‘?“ Dinka hatte schon wieder vergessen, dass sie eigentlich schweigen und keine Fragen mehr stellen wollte. „Wenn hier ein gefährliches Tier sein Unwesen treibt, wüsste ich schon gerne, wovor ich mich in Acht nehmen muss. Wie…“ Sie verstummte, als sie von allen Seiten angestarrt wurde. „Was ist? Ist das wieder etwas, dass jeder auf dieser Welt kennt, nur ich nicht?“
Es war Rune, der den Kopf schüttelte und ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte. „Nein, ganz und gar nicht. Aber die meisten unserer Gemeinschaft sind schon so lange auf der Jagd nach einer dieser scheußlichen Kreaturen, dass wir vergessen haben, wie es ist, nicht von ihnen zu wissen.“
Jiris murrte und rieb sich seinen linken Arm. „Schön war’s, bevor ich eine dieser Hexen traf.“ Er schaute Dinka ungewohnt bitter an. „Sind finstere Dämonenweiber. Außen so wunderschön, dass einem das Herz lacht. Aber eben nur solange, bis sie versuchen, es dir aus dem Leib zu reißen, um es roh zu verspeisen. Vor deinen Augen und während du noch zuckst.“
Nur Runes Hand auf ihrer Schulter verhinderte, dass sie vor Schreck zurückwich. Gerne hätte sie etwas Freches oder gar Spaßiges auf diese düsteren Worte erwidert, doch der Ernst in den Augen des Wanderers hielt sie davon ab. „Ein bisschen drastisch, die Schilderung unseres guten Gauklers, aber durchaus vorstellbar. Mach dir keine Sorgen, wir haben schon ein paarmal recht erfolgreich gegen diese Hexen gekämpft und wissen, wie wir mit ihnen umgehen müssen.“
Dinka nickte nur. Tatsächlich beruhigt fühlte sie sich allerdings nicht, denn die Anspannung der Gefährten schwang in jeder ihrer Bewegungen mit. Die beiden Krieger behielten ihre Waffen in der Hand, und selbst Jiris hatte sein langes Messer gezückt. Auch der Sternen-Elb schien der Entwarnung nicht recht zu trauen, denn seine Augen wanderten unentwegt über die Löcher der vielen Fenster und Türen, aus denen die Dunkelheit zurückstarrte.
„Ähm, was sind das denn nun wirklich? Frauen oder Dämonen?“ Dinka schaute unsicher von einem zum anderen.
„Gibt es da einen Unterschied?“, versuchte der Gaukler die Stimmung aufzulockern, handelte sich dafür aber nur einen Schlag an den Hinterkopf von Keti ein.
„In deiner Nähe wird aus jeder noch so vernünftigen Frau eine Furie, unlustiger Mann!“
Jiris grinste und rieb sich den Kopf, doch Dinka ließ sich von diesen Spötteleien nicht ablenken. „Also sind es Frauen. Aber das Wesen auf der Klippe war doch keine davon, oder?“
„Nein“, brummte Rune. „Die Roya haben viele Diener und andere Kreaturen, die ihre Befehle ausführen. Sie selbst tauchen nur auf, wenn es ihnen sicher genug erscheint. Hängen ziemlich an ihrem Leben.“
„Was recht seltsam ist, wenn man bedenkt, dass sie nicht wirklich sterben können.“ Jiris steckte endlich sein Messer ein, was seltsam beruhigend auf Dinka wirkte, bis sie seine Worte noch einmal überdachte.
„Die sind unsterblich? Aber dann kann man doch gar nicht gegen sie kämpfen!“
Rune sah sie missbilligend an. „Man kämpft nicht nur, um zu töten, Kleine. Den Gegner unschädlich machen, ihn empfindlich zu schwächen, reicht oft schon aus.“ Er zog ein Bündel zusammengebundener Papiere aus seiner Weste. „Die Roya, die hier untergekrochen war, hat uns ein paar Informationen hinterlassen, die…“
„Woher habt ihr die?“ Gronte, der die letzten Tage so zurückhaltend gewesen war, schnauzte den Wanderer wütend an, und für einen Moment dachte Dinka wirklich, der schmächtige Chronist wollte dem kampferprobten Rune an die Gurgel gehen. Das überraschte Schweigen und die ungläubigen Blicke seiner Gefährten schienen ihn aber wieder zur Vernunft zu bringen. Wie immer, wenn er im Mittelpunkt des Interesses stand, lief Gronte dunkelrot an. „Tut mir leid, ich… Nun, ich dachte, ich hätte mich überall gründlich umgesehen. Diese Papiere sind mir aber nicht aufgefallen.“
Rune musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Hast du denn irgendetwas anderes gefunden?“ Nach kurzem Zögern griff Gronte in seinen Beutel, um ein altes Buch und ein paar lose Blätter herauszuziehen. „Ist aber nichts Besonderes, nur ein paar Briefe und Aufzeichnungen einer längst verstorbenen Burgherrin. Was steht denn in euren Dokumenten? Kann ich sie lesen?“
„Nein, ganz sicher nicht!“ Rune steckte die Papiere wieder in seine Weste. „Zwar haben wir es geschafft, die Worte lesbar zu machen, aber niemand sollte ein Werk der Royas lesen, wenn sein Geist nicht ausreichend vorbereitet wurde.“
„Die Worte waren verschlüsselt? Von einer Roya? Und ihr habt sie entschlüsselt? Wie?“ Dinka konnte nicht verstehen, was den Chronisten daran so aufregte. Wenn er begeistert gewesen wäre - gut. Aber er schien eher zutiefst empört zu sein.
„Es ist der Blumenmond“, mischte sich der Elb ein und schenkte dem Jungen ein Lächeln.
„Was?“ Gronte schaute so verständnislos drein, wie Dinka sich fühlte. „Was hat der verdammte Mond damit zu tun?“
„Nun, nur in seinem bleichen Licht erblühen einige Pflanzen, deren feiner Blütenstaub allerlei Flüche und Bannsprüche aufheben kann.“ Als der Junge ihn nur sprachlos anstarrte, wurde das Lächeln breiter. „Nimm es dir nicht allzu sehr zu Herzen, junger Gronte. Nur sehr wenige wissen von den Fertigkeiten der Sternen-Elben.“
„Wie dem auch sei, wir wissen nun, dass es tatsächlich einzelnen Royas gelungen ist, sich aus der Abhängigkeit zu befreien und zu fliehen. In den Papieren steht außerdem geschrieben, wo sich eine dieser Abtrünnigen niedergelassen haben soll. Wenn die Royas darüber Bescheid wissen, dann ist sie in tödlicher Gefahr. Los jetzt, packt zusammen“, drängte Rune zur Eile. „Wir müssen sie zuerst erwischen. Mit all ihrem Wissen können wir den Royas vielleicht endlich ihre Macht nehmen.“
(Anathea DellEste)
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