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Juli - Jägerlatein: Nachts allein im Wald

Nachts allein im Wald

Hugo genoss das fast schon andächtige Schweigen seiner Lagerfeuer-Kameraden. Es war aber auch eine wirklich gute Geschichte gewesen, die er da zum Besten gegeben hatte.
»Und was hast du dann mit diesem riesigen Geweih gemacht?«, störte Manfred die nächtliche Idylle.
»Was?«
»Ja, genau - was? Du hast doch gesagt, dass es so gewaltig gewesen ist, dass es nicht in den allergeräumigsten Geländewagen der Welt gepasst hätte. Was also ist damit geschehen? Hast du es etwa einfach im Wald liegenlassen?«
Nein, das passte überhaupt nicht in eine gelungene Geschichte, und so fabulierte Hugo aus dem Stehgreif: »Natürlich nicht, wo denkst du hin!« Sofort hellten sich die Gesichter seiner Kameraden auf. »Dort oben, im dunkelsten Teil von Schweden, da gibt es ja noch sonderbare Bräuche, und als mein Jagdführer die überaus prächtigen Elchschaufeln sah, da brach er quasi in Tränen aus.«
»Wie jetzt?«, wollte Karl ganz genau wissen. »Der hat rumgeflennt? Im Ernst? Was ist das denn für ein Jäger?«
»Einer, der am liebsten auf der Stelle geheiratet hätte«, erklärte Hugo, wurde aber sofort vom grölenden Gelächter der beiden anderen unterbrochen.
»Das wusste er aber auch nicht besser, oder? Haste ihm nicht gleich gesagt, er soll die Finger davon lassen? Bringt nur Unglück, wie wir am eigenen Leibe täglich aufs Neue erfahren.«
»Darauf ein extra lautes Prost!«, stimmte Manfred aus tiefster Seele zu.
»Er wollte es aber nun mal unbedingt«, spann Hugo den Faden rasch weiter, bevor sie ihn erneut unterbrechen konnten . »Und er musste dafür etwas besonders Wertvolles aus Horn herstellen. Als er die beiden Elchschaufeln da liegen sah, wusste er gleich, daraus kann man die schönste Kinderwiege machen. Was gibt es Tolleres für eine junge Braut? Ich war also großzügig und habe sie ihm geschenkt.«
Über dieses Ende mussten sie erst einmal alle gemeinsam nachdenken. Dann nickten Manfred und Karl zu Hugos Erleichterung, denn das bedeutete exzellentes Jägerlatein, welches bekanntlich gar nicht einfach zu spinnen war. Er lehnte sich zurück und winkte Manfred zu. »Nun, Manni, leg los. Was war bei dir in letzter Zeit los?«
»Also...«, begann dieser, wurde aber sogleich von einer fremden Stimme unterbrochen.
»Ist das wirklich wahr? Tötet ihr so oft und derart sagenhafte Wesen, wie ihr es beschreibt?«
Die Stimme klang tief, rau und wild und gehörte zum Entsetzen der Männer zu einer Gestalt, die mit ihnen am Feuer saß. Hugo blickte blitzschnell von einem zum anderen, aber auch seine Kumpel schienen den unheimlichen Typen erst jetzt bemerkt zu haben. Was für ein unverschämter Kerl! Sich in dunkler Nacht derart an unschuldige Jagdgesellen heranzuschleichen! Bevor er dem Unmut Luft machen konnte, rückte der Unbekannte ein wenig näher in den Schein der Flammen, und die Worte blieben für immer ungesagt in Hugos Kehle stecken. Auch Manfred und Karl schnappten erschrocken nach Luft.
Der Neuankömmling trug ein prächtiges Geweih auf dem Kopf. Sein Oberkörper entsprach dem eines durchtrainierten Mannes, doch der untere Teil war mit Fell bedeckt und endete in kräftigen Läufen, wie man sie von Hirschen kannte. Das Seltsamste und gleichzeitig Entsetzlichste waren jedoch seine goldenen Augen, die sanft und wild zugleich,  in ihre Seelen zu blicken schienen.
»Und? Wie lautet eure Antwort auf meine Fragen?«
Alle drei schüttelten unisono und äußerst vehement den Kopf.
»Das heißt, ihr tötet nicht wirklich, sondern nur mit dem Mund?«
Nach einem kurzen Moment der Sammlung erhielt er ein kollektives Nicken zur Antwort.
»Nun«, schnaubte der Fremde belustigt. »Wie sich die Zeiten doch gewandelt haben, seit ich mich vor langem zum Schlafen legte. Also gut.« Er erhob sich, um auf die drei Männer hinabzuschauen, die bang am Feuer kauerten. »Es ist an der Zeit, dass der Herr der Wildnis sich wieder um die Seinen kümmert. Sagt unter den Menschen weiter, dass sinnloses Töten von nun an hart bestraft werden wird.«

Hugo blinzelte, doch die seltsame Erscheinung war und blieb verschwunden, von einem Wimpernschlag zum anderen schien sie sich in Luft aufgelöst zu haben. Eine ganze Weile saßen die drei Möchtegern-Jäger schweigend in der finsteren Nacht.
„Oh, Mann! Jungs, das glaubt uns kein Mensch«, schreckte Manni schließlich die beiden anderen aus ihren Gedanken.
»Natürlich nicht«, knurrte Hugo. »Sowas fällt ja nicht einmal unter echtes Jägerlatein. Am besten erzählen wir niemanden davon, sonst lacht bald die ganze Stadt über uns.«
»Darauf ein extra lautes Prost«, erwiderte Manni, bevor die drei sich über ihre Biervorräte hermachten.

Nun allerdings schweigend.

 

  (Anathea DellEste)

 

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