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Oktober - Odyssee: Fremde Welten

Fremde Welten

Sie war die schwarze Kälte gewohnt, liebte und fürchtete sie zugleich. An manchen Tagen konnte sie sie allerdings kaum ertragen; dies war einer davon. Das Gesicht an das Fenster des linken Außengangs gepresst, starrte sie hinaus in die Unendlichkeit, fand dort jedoch keine Hoffnung. Wenn Zwo sie vorzeitig verließ, würde sie jahrzehntelang allein mit der Schwärze des Universums zurechtkommen müssen. »Ich kann das nicht«, wisperte sie dem Schweigen auf der anderen Seite der Scheibe zu.
»Eins?«
Sie schreckte aus ihren Gedanken und drehte sich zu dem zweiten Passagier des Zwischen-Stern-Gleiters um, dem einzigen lebendigen Wesen, das seit mehr als sechzig Jahren in ihrer Umgebung weilte. »Was gibt es denn, Zwo?«
»Wenn du nicht mit mir, sondern mit dir selbst sprichst, dann geht dir oft schlecht. Du weißt doch, dass es hilft, sich auszusprechen.«
Sie seufzte. »Wir haben doch schon hunderte Male über die Situation gesprochen, ohne damit etwas ändern zu können. Es liegt außerhalb unserer Möglichkeiten, warum also noch reden?«
»Was genau bedrückt dich? Es gibt doch immer einen Auslöser, denn normalerweise funktioniert das Programm.«
Sie verzog das Gesicht. Das Programm! Es sorgte für alles. Es regulierte ihr Leben - dass sie viel weniger essen und trinken mussten als die Menschen auf der Heimatbasis, dass ihre Stimmung stets ausgeglichen blieb und dass sie sich nicht zu nahe kamen. Erst wenn sie es geschafft und eine neue bewohnbare Welt gefunden hatten, würde ihnen all dies wieder erlaubt sein. Bis dahin waren sie nichts weiter als Kohlenstoffklumpen, die von unsichtbaren und emotionslosen Intelligenzen gesteuert wurden.
Etwas kitzelte ihre Wange und sie wischte mit der Hand darüber. Sie runzelte die Stirn, als sie die klare Flüssigkeit an ihrem Finger musterte. Was ...? »Das kann nicht sein!«
Zwei legte die Arme um sie, zog sie an sich heran, was in ihr ein wohliges Gefühl von Zuhause und Geborgenheit hervorrief. Obwohl das noch seltsamer war als die einzelne Träne.
»Was ist geschehen?, fragte sie. »Habe ich etwas verpasst? Sind wir an unserem Ziel angekommen?«
»Nein, das ist nicht der Grund«, raunte er in die Kapuze, die stets ihren Kopf bedeckte. Verwirrt und aufgeregt zugleich ließ sie zu, dass er den Verschluss öffnete und den Stoff beiseiteschob, um ihr Haar zu streicheln. Sie schloss die Augen, genoss diese sanfte Berührung, die sie zuletzt als kleines Mädchen erlebt hatte - an dem Tag, als ihre Mutter sich von ihr verabschiedete, um sie anschließend dem Herrscher zum Geschenk zu machen.
»Was ist geschehen?«, wiederholte sie ihre Frage.
Zwei seufzte, dann schob er sie auf Armlänge von sich, um ihr in die Augen zu schauen.  »Ich habe das Programm abgeschaltet.«
»Unmöglich!« Niemand konnte das. Obwohl es mehr als ungewöhnlich war, dass ihr viel zu intimes Gespräch nicht unterbunden worden war. Allein die Vorstellung war ungeheuerlich. »Wie?«, flüsterte sie.
»Ich habe es verwirrt.« Das Grinsen auf seinem Gesicht überzeugte sie endgültig, dass etwas Besonderes geschah, denn es war das Erste auf dieser unendlichen Reise. »Du wirst alles erfahren, Aber jetzt müssen wir uns beeilen. Der Countdown läuft.«
Er zog sie mit sich in den Zentralraum, wo fast überall an den Wänden nur der karge Anstrich zu sehen war. Dort, wo das Programm sonst Informationen, Auswertungen oder Prognosen zu allen Planeten und Monden der umliegenden Quadranten anzeigte, um sie in atemberaubender Geschwindigkeit miteinander zu verknüpfen, gab es heute nur ein einziges Datenfenster. Ehe sie sich näher damit befassen konnte, öffnete Zwei ein Geheimfach neben der Türverriegelung und winkte sie heran. »Siehst du das hier? Wir haben noch ungefähr vier Stunden, bevor sich das verdammte Ding wieder selbst aktiviert. Eine recht gemeine Falle für alle jene, die es doch schaffen sollten, das System des Herrschers auszutricksen.«
Sie starrte auf den veralteten Zeitmesser, der fleißig die Sekunden herunter zählte. »Woher weißt du davon?«
»Mein Vater hat am Bau dieser Zeitschiffe mitgearbeitet, und als der Herrscher dann zum Dank ausgerechnet mich für das Weltenprogramm forderte, hat er mir all sein Wissen weitergegeben. Er wollte, dass ich eine neue Welt finde, dort aber frei leben kann - ohne die übliche Unterdrückung.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor er zu Boden sah. »Ich hätte es dir gern schon früher erzählt, aber es war schwer genug, meine eigenen Gedanken vor dem Programm geheim zu halten. Wusstest du, dass sie uns in jeder Schlafphase mental ausspioniert und neu justiert haben?«
»Nein, aber wie konntest du das umgehen?«
Er blinzelte ihr zu, und sie bemerkte, dass sich ihre Gesichtsmuskeln bewegten - jetzt hatte auch sie ihr Grinsen wiedergefunden. »Ich habe in meinen gesamten Wohnbereich Zettel aufgeklebt, die mir halfen, mich zu erinnern. So habe ich auch das Programm verwirrt - ich habe mit Personen geplaudert, die es nicht sehen konnte, habe von Geschehnissen gesprochen, die es an Bord nie gegeben hat. Jedes Mal hat es diese Dinge gelöscht, und immer wieder habe ich von Neuem damit angefangen. Nach gut fünfzig Jahren hat es begonnen, selbst an die von mir erfundenen Personen und Ereignisse zu glauben. Es musste stimmen, denn wie sollte ich sonst nach all den Manipulationen davon wissen.?Wir sind zu weit von der Basis entfernt; es konnte sich kein Update holen und deshalb wurde es immer leichter, dem Programm falsche Daten unterzujubeln.«
Sie rieb sich über die Stirn. »Aber wozu das Ganze? Ich meine, weshalb all der Aufwand, wenn uns doch nur vier Stunden bleiben? Hast du etwas Besonderes vor?«
Dieses Mal war sein Lächeln breiter, ein Grübchen zeigte sich und machte ihn noch anziehender für Eins.
»Das könnte man so sagen. Wenn das System aktiv wird, dann werden wir verschwunden sein.«
Als sie ihn nur anstarrte, seufzte er. »Vertrau mir - ich habe alles sehr lange und vor allem extrem gründlich geplant. Ich habe nicht nur die Informationen, sondern auch die Aufzeichnungen über alle angesteuerten Koordinaten durcheinandergebracht.« Er packte sie am Arm, führte sie zum Fenster und zeigte auf einen grün leuchtenden Planeten, auf dessen Umlaufbahn sich drei rot-gelbe Monde drehten. »Das dort wird unsere neue Heimat. Alles ist vorbereitet, denn wir waren bereits zweimal hier.«
»Wann?«, hauchte sie.  »Ich bin mir sicher, dass ich diese Welt noch nicht gesehen habe.«
»Nun, eigentlich waren es unsere Schlafphasen, aber wie gesagt - ich konnte das System immer besser austricksen. Sollte das Schiff jemals zur Basis zurückkehren, wird dieser Planet als unbewohnbar kategorisiert sein. Die Transporte für Lebensmittel, Werkzeuge und all das, was ich mit Wissenschaftskapseln bereits dorthin gebracht habe, wurden als simple Sondierungen festgehalten. Sie werden uns niemals finden.«
»Aber ...« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie die Bruchstücke zweier miteinander kollidierter Meteoriten. »Das Schiff wird noch in der Nähe sein, wenn das System erwacht. Es wird einfach die eigene Spur zurückverfolgen!«
Zwo schüttelte den Kopf. »Nein, das wird es nicht. Sobald wir von Bord sind, schicke ich es in einen komplexen Ablauf etlicher Raumsprünge. Und diese Abfolge wird sicher versteckt zwischen alten Daten, während eine längst vergangene Reiseroute als aktuell markiert wird.« Er sah sie erwartungsvoll an. »Was denkst du? Gehst du das Risiko mit mir ein?«
So froh und abenteuerlustig hatte sie sich seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt, deshalb gab es nicht zu überlegen. »Jetzt und auf der Stelle! Lass uns sofort aufbrechen.«

Die Luft ihrer neuen eigenen Welt roch würzig und kribbelte ein wenig in ihrer Nase, während sie sich staunend umsah. »Wie wunderschön es hier ist«, wisperte sie, bevor sie sich Zwo zuwandte. »Eins muss ich noch wissen. Wieso? Wie bist du auf diese Idee gekommen?«
Er senkte den Blick. »Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als wir alle auf den Platz vor dem Palast des Herrschers gebracht wurden, um per Los auf die Schiffe verteilt zu werden?«
Sie nickte. Wie könnte sie ihn vergessen, diesen Tag, an dem ihr die letzte Hoffnung geraubt wurde, jemals zu ihrer Familie zurückkehren zu können.
»Ich war genauso panisch und unglücklich wie alle anderen. Bis ich dich sah.« Immer noch wich er ihrem Blick aus. »Du warst das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, und als das Los ausgerechnet mich zu deinem Partner bestimmte, konnte ich mein Glück zunächst nicht fassen. Aber vom ersten Tag an war mir klar, dass ich uns beide aus dieser Falle befreien musste.« Erst jetzt schaute er sie an, streckte die Hand nach ihr aus, um ihr Haar zu berühren. »Die ganze Zeit fragte ich mich, wie ich damit leben sollte, wenn wir das Ziel niemals erreichten. Wenn wir irgendwann wegen Altersschwäche umkippen würden, ohne je über die Stränge geschlagen zu haben, indem wir einfach  Eiskrem aus der Nahrungseinheit forderten.« Er machte eine kurze Pause, um ihr ein Zwinkern und ein Lächeln zu schenken. »Und wie grausam es wäre, wenn wir uns in all der gemeinsam verbrachten Zeit nicht einmal umarmt hätten. Wenn wir am Ende sterben würden, ohne uns jemals geküsst zu haben.«
»Eine schreckliche Vorstellung«, stimmte sie zu. »Das darf auf keinen Fall geschehen.« Sie trat auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals, und sie versanken in einem langen Kuss, während die Monde langsam über dem Meer aufgingen.
Hinter ihnen kam Bewegung in die Kugeln, die im Sand verstreut lagen und wie runde Felsblöcke aussahen. Unzählige winzige Augen öffneten sich, beobachteten die Neuankömmlinge voller Vorfreude. Dann taten sich ebenso viele Münder darin auf, deren nadelspitzen Zähne im Mondlicht aufblitzten.

 

(Anathea DellEste)

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