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Türchen 03 "Tannenzapfen"


Der Waldspaziergang

„Vermeiden Sie wenn nicht unbedingt nötige Autofahrten, da eine Schneewalze vom Westen über das Land zieht“, hören Peter und seine beiden Söhne am Frühstückstisch aus dem Radio.
„Kinder, was haltet ihr davon, wenn wir nach dem Frühstück noch einen schönen Spaziergang machen? Bevor es zu stark zu schneien beginnt.“
„Nicht schon wieder. Voll langweilig“, kommt es von Christian, der unter dem Tisch mit seinem Handy spielt.
„Muss das echt sein“, stimmt Thorsten in den Chor ein.
„Leute, stellt euch nicht so an. Zieht euch an, in zehn Minuten geht es los.“

In Jacken, mit warmen Schals und Handschuhen eingepackt verlassen sie Minuten später mit der Malterserhündin Mira das Haus und biegen in die Bogenbachgasse ein. Dicke Schneeflocken fallen auf sie nieder und Mira springt vergnügt mit dem Schnee um die Wette. Keine Spuren sind auf den Boden zu sehen.
Da sie alleine am Bach entlang unterwegs sind, löst Peter die Leine und Mira saust davon. Es knackst, es fällt der Hündin ein Teil auf den Kopf. Sie bleibt ruckartig stehen, knurrt und sieht flehentlich zurück. Peter und die Jungs sprinten zu Mira. Ein Tannenzapfen liegt neben Mira im Schnee, der sich vom Baum gelöst hat.
Thorsten schmiegt sich an Mias Kopf. „Alles ist gut.“
Die Hündin springt auf und schüttelt sich den Schnee vom Fell.
„Hör auf. Du willst eine Schneeballschlacht haben. Das kannst du gerne haben.“ Thorsten lacht.
Mit Wucht trifft Thorsten ein Schneeball auf der rechten Schulter. Er dreht sich um und sieht seinen Bruder lachen.

 

© 2020 Sandra Novak (Wien)

 


Waldgeister

Sie setzte sich auf die Bank am Rand des Waldes und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Nach dem kurzen Regenschauer am Vormittag hüllte ein leichter Dunst ihren bevorzugten Ruheplatz ein. Die Luft war zwar feucht, aber zu warm für diese Jahreszeit. Mia schaute hinauf in die Bäume, von denen viele ihr Laub immer noch nicht abgeworfen hatten, obwohl die Adventszeit längst begonnen hatte.
Ein Rascheln riss sie aus ihren trüben Gedanken. Ein Eichhörnchen hüpfte keck auf dem Boden herum, schaufelte hier und dort die Blätter auseinander, als würde es etwas suchen. Ab und zu hielt es inne, wobei es heftig mit dem Schwanz zuckte. Mia konnte sich das Grinsen bei diesem Anblick nicht verkneifen. Der kleine Waldbewohner schien ernsthaft verärgert, was er durch weiteres wilden Wühlen im Laub zum Ausdruck brachte. Ein Tannenzapfen nach dem anderen wurde untersucht, aber als nicht appetitlich genug aussortiert. Das eigene Versteck wiederzufinden, schien gar nicht so einfach zu sein.
Wieder hielt das Eichhörnchen inne, um dann in empörtes Keckern auszubrechen. Ein Artgenosse mit deutlich dunklerem Fell kam den Baum heruntergeklettert, und im Nu jagten und tobten die beiden um die Wette.
Mia beobachtete lächelnd, wie die kleinen Kobolde die mächtigen Baumstämme rauf und runter flitzen und sich eine wilde Verfolgungsjagd von einem Baum zum anderen lieferten. Wie Geister waren sie aufgetaucht und ebenso blitzschnell verschwanden sie wieder in den hochgelegenen Baumkronen.
Sie seufzte zufrieden und schaute erneut auf die Lichtung. Der zarte Dunstschleier hatte sich aufgelöst, ebenso wie ihre trübsinnigen Gedanken.

 

 © 2020 Anathea Westen (Lipperland)

 

 


Stummes Weihnachtslied

Manche Wünsche lassen sich nicht erfüllen. Diesen Satz hasste Emma über alles. Unzählige Male hatte sie ihn gehört. Und immer wieder schmerzte es sie auf ein Neues. Das Jesuskind kam zu jedem Kind und erfüllte Wünsche. Voller Hoffnung stellte sie eine LED-Kerze ins Fenster und setzte sich davor. Irgendwann fielen ihr die Augen zu.

„Wach auf! Heute Nacht wird sich deine Bitte erfüllen. Ich bin dein Schutzengel.“
Emma rieb sich die Augen. Also doch! Der Engel setzte sich neben ihr. „Deine Oma war Lehrerin für Gehörlose. Sie versteht die Gebärdensprache. Morgen wirst du ihr den „Oh Tannenbaum“ in Zeichensprache vortragen. Sollten deine Eltern zweifeln, reich diesen Tannenzapfen, um zu zeigen, was du vorhast.“
Emma lächelte ihn an, dankte stumm dem Himmel. Voller Eifer lernte sie unter der geduldigen Führung ihres Beschützers die Gesten. Am nächsten Morgen stand sie beim ersten Hahnenschrei auf und machte sich zurecht. Gut, dass die Mama ihr stets die Kleider am Vorabend vorbereitete.
Unten servierte die Mutter das Frühstück. „Morgen mein Spatz! Du siehst hübsch aus. Du kommst also mit zu Oma?“
Emma nickte, nahm den Tannenzapfen heraus. Der am Tisch sitzende Vater tauschte mit der Mutter einen verwunderten Blick. Emma wusste warum. Sie hatte nicht als Stumme zu ihrer Oma fahren wollen. Aber jetzt, da sie wusste, was ihre Großmutter für einen Beruf gehabt hatte, machte es ihr nichts mehr aus.

Das Staunen wurde größer am Mittag, als Emma ohne zu zögern das Lied auf ihre Weise vortrug. Die Oma weinte vor Glück.

 

© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)

 


Der Tannenzapfen


Ich bin in letzter Zeit müde. Schwer auf den Gehstock gestützt, komme ich nur langsam voran. Meine Enkelkinder springen mühelos voraus und ich freue mich auf das vorweihnachtliche Ritual. Sie kennen den Weg und sind lange vor mir bei der großen Tanne.
Irgendwann werden sie andere Interessen entwickeln, als mit ihrer Großmutter unter einem Baum Stockbrot mit Apfelmus zu essen. Und auch für mich wird es von Jahr zu Jahr beschwerlicher. Aber noch ist es nicht so weit und mein Sohn hat alles zu meiner Zufriedenheit gerichtet. Wie immer, werde ich den beiden eine Geschichte erzählen, bis das Brot über dem Feuer gebacken ist.


Da fällt mir ein Tannenzapfen in den Schoss. Ich schaue ehrfurchtsvoll nach oben in den Baum, der gut zwanzig Meter in den Himmel ragt: 

„Als kleines Mädchen hatte ich eine Lieblingstanne im nahen Wald. Sie war um einiges größer als diese hier. Ich vertraute ihr meine Sorgen an oder träumte in ihrem Schatten, wenn ich glücklich war. Sie beherbergte Eichhörnchen, Greifvögel und Eulen und die Vögel sangen in ihrem Grün. Eines Nachmittags kam ich auf die Lichtung und blieb erschrocken stehen. Alles war verwüstet und meine Tanne lag im Gras, die Äste abgeschlagen. Ich weinte bitterlich und streichelte über die Zweige.  Ein großer Tannenzapfen lag auf dem Boden. Ich nahm ihn mit nach Hause und als er trocknete, fielen die Samen heraus. Ich vergrub sie alle auf einer Stelle im Garten.“


Geheimnisvoll schaue ich hinauf in die Tanne und zwinkere dann meinen Enkeln zu.

 

 

© 2020 Flora MC (Alsace)

 


Zapfenkunde

„Da liegen ganz viele Tannenzapfen.“
Ein kleines Mädchen hüpfte an Felix vorbei. Ihr folgte eine junge Frau in seinem Alter. Rote Locken standen wirr von ihrem Kopf ab. Als sie an ihm vorbeiging, wehte der schwache Duft von Sandelholz zu ihm herüber.
„Das sind keine Tannenzapfen, Nele.“
Felix horchte auf. Es war selten, dass jemand das wusste.
„Jawohl, Paula“, sagte die Kleine energisch. „Mama und ich sammeln sie jedes Jahr und basteln damit für Weihnachten.“
Aha – Paula war also nicht Neles Mutter.

„Das hier sind Kiefernzapfen.“ Paula gab der Kleinen einen der Zapfen. „Und die bei euch im Garten sind Fichtenzapfen. Viele Menschen nennen diese Arten auch Tannenzapfen, aber eigentlich heißen so nur die Zapfen von Tannen.“
„Das verstehe ich nicht.“
Bevor er sich stoppen konnte, sagte Felix: „Das ist wie mit Taschentüchern. Ganz viele Menschen nennen sie Tempotücher, dabei ist Tempo nur eine Marke von Taschentüchern.“

Paulas Kopf ruckte herum und er spürte, wie er rot wurde. „Entschuldigt, ich wollte mich nicht einmischen.“
„Schon okay.“ Als Paula lächelte, blitzte eine bezaubernde Zahnlücke auf. „Das ist ein toller Vergleich.“
„Berufskrankheit.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Biolehrer.“
„Weißt du auch, wie echte Tannenzapfen aussehen?“, wollte Nele wissen.
„Klar.“ Er deutete auf einige Tannen in der Nähe. „Man findet sie selten auf dem Boden, aber wenn du magst, pflücke ich dir eine.“
Nele klatschte begeistert.
„Wäre das okay?“ Er hoffte, dass Paula ja sagen würde. Er wollte mehr Zeit mit ihr verbringen.
Sie lächelte. „Weißt du auch was über Buntspechte?“

 © 2020 Katja Kobusch (Hamburg)

 

 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Flora MC (Donnerstag, 03 Dezember 2020 23:04)

    Es macht nicht nur eine Menge Spaß die Geschichten zu schreiben, sondern definitiv auch, die der anderen Autoren zu lesen.
    Die Bildgestaltung ist gut gemacht und das I-Tüpfelchen dieses Adventskalenders.
    Vielen Dank Anathea, für diese kreative Idee. Gerade in dieser besonderen Zeit, versüßt es die Zeit bis Weihnachten.