Ausgegrenzt
„Eva spielt nicht mit. Sie ist zu langsam. Kein Wunder bei ihrem dicken Bauch. Die könnten wir eher als Ball nutzen.“
Alex verschränkt beide Arme vor die Brust. Nein, die Eva kommt nicht in sein Team. Er mag dieses Mädchen nicht, dass dauernd Schokolade nascht und immerzu weint. Er weiß nichts über sie, denn Eva
redet kaum. Die Neue ist ein Rätsel.
„Alex, komm rüber zu mir!“
Alex zieht beim Ruf des Lehrers John den Kopf ein. Bestimmt wird der ihm erzählen, er soll nett zu den anderen sein. Aber zu seiner Überraschung reicht ihm John ein Flugblatt.
„Dieses Jahr führen wir Rudolph, das Rentier auf. Ich habe dir die Hauptrolle ausgesucht. Du wirst perfekt mit der roten Nase sein.“
Alex strahlt. Die Hauptrolle! Besser könnte es nicht sein.
Aber das Lachen vergeht ihm bei der ersten Probe. Alle Kinder beschimpfen ihn. Und zwar so, wie er es mit Eva tut.
„Der Rudi gehört nicht zu uns. Seine rote Nase ist eine Schande.“
Es ist ein Spiel, trotzdem fühlt sich Alex schlecht. Noch schlechter ergeht es ihm, als der Weihnachtsmann auf ihn zukommt. Scheu tritt Eva auf ihn zu. Schluck! Ausgerechnet sie rettet ihn. Das
hat John klug eingefädelt.
Alex vergisst seinen Text. Stattdessen reicht er Eva die Hand. „Es tut mir leid!“
Sie nimmt die Hand an. Später erfährt Alex, dass Eva ihre Eltern bei einem Brand verloren hat. Trost findet sie in der Schokolade. Betroffen bietet Alex ihr Freundschaft an. Zögernd sieht sie ihn
an. Und bejaht.
© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)
Das kleine Rentier
Es ist beschlossene Sache. Dieses Jahr dürfen erstmals die jungen Rentiere mit dem Weihnachtsmann auf große Fahrt gehen.
„Hört zu“, sagt er und krault sich verzweifelt den Bart, „zehn sind einer zu viel. Neun Rentiere ziehen seit jeher meinen Schlitten. Wer ist bereit, freiwillig zurückzutreten?“ Betretenes
Schweigen. „Also gut, dann muss wohl ich entscheiden? Schnuppe, du bist der Kleinste.“ Traurig lässt dieser den Kopf hängen.
Am Weihnachtstag sind alle mächtig aufgeregt und rund um den Schlitten geht es hoch her. Die Rentiere schmücken sich mit den Glöckchen und studieren den Plan, auf dem ihre Reihenfolge aufgemalt
ist.
Schnuppe ist nicht scharf darauf, den anderen dabei zuzuschauen. Deshalb stapft er durch den frisch gefallenen Schnee und besucht die Eisbären, die zurzeit Junge haben.
Im Getümmel ist keinem aufgefallen, dass ein Rentier fehlt, aber beim Einspannen bleibt der rechte Platz vor dem Schlitten leer. Niemand hat eine Idee, wo sich Wolke herumtreiben könnte. Die Zeit
drängt. Elfen werden auf die Suche geschickt und der Weihnachtsmann tritt von einem Fuß auf den anderen. Er beschließt, auf Schnuppe zurückzugreifen, der aber auch nirgends zu finden ist.
Da kommt der Suchtrupp um die Ecke, die beiden Rentiere im Schlepptau. Wolke schaut beschämt zu Boden.
„Er lag im Eiswasser, eingebrochen“, berichtet der Anführer verärgert. „Hätte der Kleine ihm nicht mit einem großen Ast geholfen, wäre er jämmerlich ertrunken.“
Raunen und Getuschel sind zu vernehmen, als der Weihnachtsmann Schnuppe stolz auf den Hals klopft und ihn an den leeren Platz vor dem Schlitten führt.
© 2020 Flora MC (Alsace)
Die rote Nase
„Ich will endlich Rudolph sehen“, mault Lukas.
„Mit einem Rudolph kann ich nicht dienen. Aber wir haben auch Rentiere, so wie Rudolph“, sagt der Tierpfleger.“
„Kein Rudolph“, Lukas sieht ihm mit traurigen Augen an. „Ich mag aber keine anderen Rentiere. Ich will Rudolph“.
„Na, komm. Wir gehen mal mit und sehen uns die Rentiere an.“ Papa nimmt seine Hand und sie folgen gemeinsam den Tierpfleger durch den Stall hinaus zu den Freigehegen.
Beim Futtertrog stehen zwei grauhaarige Rentiere und fressen Gräser und Moos. Sie blicken kurz auf, als sie die Besucher sehen und konzentrieren sich dann wieder auf ihr Futter.
Von der Rückseite des Futterhäuschens hören sie ein Kratzen.
„Das ist wahrscheinlich unser Willi“, meint der Tierpfleger Tom. „Wenn wir leise sind, dann traut er sich vielleicht auch raus. Der ist etwas schüchtern.“
Mit langsamen Schritten nähert sich das humpelnde braunhaarige Rentier dem Tierpfleger.
„Das Rentier hat doch gar keine rote Nase. Der ist nicht wie Rudolph“, beklagt sich Lukas.
„Magst du Willi vielleicht einmal füttern?“
Lukas nickt.
Tom gibt ihm eine Handvoll Trockenfutter und Lukas streckt seine Hand zögernd zu Willi. Der lässt sein Kopf hängen und sieht ihm mit seinen großen Augen an.
„Alles gut Willi“, redet Tom auf ihn ein.
Das Rentier kommt auf sie zu und beschnuppert Lukas Hand. Willi frisst gierig das Futter.
Lukas streichelt ihm über den Kopf. „Willi macht dir nichts draus. Du hast zwar keine rote Nase wie Rudolph. Aber du bist noch viel süßer.“
© 2020 Sandra Novak (Wien)
Kalte Welt
„Bist du sicher, dass wir das tun sollten?“ Veit blickte immer wieder nervös um sich. „Du weißt doch, was man über die Verwilderten sagt.“
„Ja, ja“, gab Anton zurück. „Jetzt mach dir nicht gleich in die Hose. Es ist Jahrzehnte her, dass es überhaupt versucht wurde. Ich sage dir, das sind alles Ammenmärchen, die damals von ein paar
Geistesgestörten in die Welt gesetzt wurden. Wir werden zum Weihnachtsfest endlich wieder Fleisch nach Hause bringen.“
„Und wenn da diese Viren drin sind?`“ Sein Bruder blieb so abrupt stehen, dass Veit gegen ihn prallte.
„Schluss mit diesem Unsinn!“ Er drohte Veit mit der Faust. „Denk einfach mal nach. Aus dem Nichts taucht ein unbekanntes Virus auf und tötet Menschen. Diese töten daraufhin alle möglichen Tiere
...“
„Es waren Millionen“, raunte Veit. „Zu viele, um sie zu vergraben, und doch haben sie es getan und damit Boden und Gewässer verseucht.“
„Blödsinn“, fauchte Anton. „Aber selbst wenn sich ein paar Aasfresser an den fauligen Kadavern vergriffen hätten und infiziert worden wären, was hat das mit den Viechern zu tun, die wir heute
jagen? Willst du mir erzählen, die hätten auch davon genascht?“
„Großmutter sagt, dass die Tiere sich verändert haben.“ Veit ignorierte Antons Augenrollen. „Sie fordern jetzt Respekt von uns.“
Sein Bruder schnaubte. „Tun sie das? Aber wir haben die Waffen und ... Was ist?“
Veit wich zurück, als die Rentiere unmittelbar vor ihnen auftauchten. Ihr wehmütiger und zugleich wissender Blick war das Letzte, was er wahrnahm, bevor es für immer dunkel wurde.
© 2020 Anathea Westen (Lipperland)
Miss Glühweinchen
Tom trank seinen Glühwein aus und sah zu Raphael und Kira herüber. Auch nach einem Jahr waren sie bis über beide Ohren verliebt. Anfangs hatte er sich über seinen besten Freund und die Umstände
lustig gemacht, unter denen er Kira kennengelernt hatte: Sie war ihm, als Werbegeschenke verteilender Engel, in einem Einkaufszentrum vor die Füße gefallen.
Mittlerweile beneidete er ihn. Während Raphael seine Gefühle offen zeigte, versteckte er sich hinter flotten Sprüchen und schlechten Witzen.
„Fünftes Rad an Traumpaar.“ Er wedelte vor ihren Gesichtern herum. „Ich brauche noch eine Runde. Ihr auch?“
„Nein danke, Bro.“
Kira schüttelte nur den Kopf und kicherte, als Raphael ihr einen Kuss aufs Ohr hauchte.
„Dann bis gleich.“ Tom gönnte ihnen ihr Glück, aber er war froh, den Turteltäubchen für eine Weile zu entkommen.
Er reihte sich in die Schlange am Glühweinstand ein. Vor ihm stand ein Mädchen mit einem Hirschgeweih-Haarreif. Sie sang leise „Last Christmas“ mit, der aus den Boxen über den Weihnachtsmarkt
schallte.
„Hattest du nicht genug?“, fragte ihre Freundin.
„Auf keinen Fall“, flötete sie. „An Weihnachten soll man den Wein achten. Glüh, Weinchen, Glüh.“
Tom lachte leise, während ihre Freundin die Augen verdrehte und ging.
Das Mädchen wirbelte zu ihm herum. „Lachst du über mich?“
„Absolut.“
„Unverschämtheit.“
„Fraglos.“
Sie grinste. „Dafür lädst du mich ein?“
„Unbedingt“, er grinste zurück, „Miss Glühweinchen.“
„Miss Glühweinchen?“ Sie lachte.
„Ich heiße-“
„Dasher.“
„Im Sinne von elegante Erscheinung?“
„Unsinn.“ Sie setzte ihm ihren Hirsch-Haarreif auf und lächelte kokett. „Im Sinne von: Eins von Santas Rentieren.“
© 2020 Katja Kobusch (Hamburg)
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