Der Stiefelmann
Kennt ihr den Stiefelmann?
Der Fabrikverkauf fand in einer Halle statt. Schuhkarton an Schuhkarton bedeckte die Wände, nach Größen sortiert. Die Kinderschuhe waren in einer gesonderten Abteilung.
Lisa und Max durften sich dort umschauen, bis die Erwachsenen ihre Auswahl getroffen hatten. Die Kleine liebte Lackschuhe, Max bevorzugte coole Sneaker. Beides stand heute nicht auf der
Einkaufsliste. Es war Ende November und sie brauchten neue Winterstiefel. Wie langweilig.
Als Lisa einen Karton Lackschuhe herauszog, schnappte etwas Unsichtbares nach ihrer Hand und zog sie mitten durch die Kartonwand. Max ließ die Turnschuhe fallen und starrte auf die Stelle,
wo eben noch seine Schwester gestanden hatte. Er trat vor und sofort erfasste ihn der Sog und zog ihn ..., ja wohin? Er hatte keine Ahnung.
Die Welt auf der anderen Seite war gewöhnlich, bis auf die Schuhe, die völlig allein herummarschierten. Es war tiefster Winter, aber es gab keine Winterschuhe. Dafür sah man Pumps, High Heels,
Lackschuhe und Sneakers ... Sie trieften vor Nässe und gaben jammernde Töne von sich. Lisa griff sich ein paar Schuhe, die gerade vorbeikamen.
„Warum weint ihr?“
„Wir sind Jammerschuhe. Sucht sich jemand unpassendes Schuhwerk aus, so müssen wir in unserer Welt darin herumlaufen.“
Der Boden bebte. Ein Riese in Winterstiefeln kam direkt auf sie zu.
„Wer bist du?“, fragte Max.
„Ich bin der Stiefelmann und stehe für Zweckmäßigkeit. Immer, wenn jemand die falsche Wahl trifft, müssen die Schuhe hier leiden.“
Die Geschwister landeten hart auf dem Hallenboden. Der Schuhkauf ging diesmal schnell und unproblematisch vonstatten.
© 2020 Flora MC (Alsace)
Der Spaziergang
„Komm, lass uns rausgehen. Es schneit“, schlagt Ramona ihren Freund vor, mit dem sie zusammengekuschelt auf der Couch liegt.
„Wenn’s sein muss. Aber auf der Couch ist es auch sehr gemütlich. Muss das wirklich sein?“
„Komm schon!“ Sie streckt ihre Hand nach Paul aus und zieht ihm mit einem Ruck auf die Beine.
„Sieht aber ganz schön kalt aus. Lass uns mal die Winterstiefeln und Handschuhe anziehen.“
„Du Mimose“, zieht Ramona ihn auf und lacht.
Die Tür fällt ins Schloss und sie schlendern über den Busbahnhof. Der eisige Wind lässt Ramona frösteln. Sie schlägt den Kragen des Mantels hoch. „Komm lass uns zu dem Bach runtergehen. Da geht
der Wind nicht so stark. Da können wir eine schöne Runde drehen.“
„Schöne Runde bei dem Wetter.“
Sie dreht sich zu ihm und küsst ihn, um das Genörgel zu beenden.
Am Ufer sind nur vereinzelt Spaziergänger unterwegs. Ein älterer Mann mit seinem bellenden Dackel, der den Schneeflocken nachjagt und eine Familie mit ihren beiden Kindern.
Ramona und Paul halten sich an den Händen und schlendern den Weg am Bach entlang. Das Wasser plätschert leise vor sich hin.
Der Schneefall ist stärker geworden und dicke Schneeflocken fallen auf sie herab. „Komm lass uns umdrehen?“, sagt Paul und dreht sich zu Ramona. Ihre dunklen Haare sind voller Schneeflocken. Er
wischt ihre eine Schneeflocke von der Wange und zieht sie zu sich heran und küsst sie innig.
Sie umarmt ihn und flüstert in sein Ohr: „Ja, wir sollten schnell nachhause gehen.“
© 2020 Sandra Novak (Wien)
Das kleine Wort
„Ich will, ich will, ich will aber!“ Nikas Gebrüll klang durch das ganze Haus, doch ihre Mutter ließ sich nicht erweichen.
„Nein, du bekommst deine neuen Winterstiefel erst morgen, wenn wir Tante Mona besuchen gehen. Es ist schon spät, und du ziehst sie nicht mehr an, sondern machst dich fertig fürs Bett!“
Als ihre Mutter schlafen gegangen war, schlich Nika leise nach unten, um die schönen dunkelroten Stiefel trotzdem anzuprobieren. Kaum war sie hineingeschlüpft, da öffnete sich die Haustür von
allein, und die eifrigen Stiefelchen liefen mit ihr in die kalte Nacht.
„Hey, spinnt ihr? Bleibt stehen! Stopp, ihr blöden Biester“, schrie sie, doch das bewirkte gar nichts. Sie versuchte, die Stiefel abzustreifen, aber dafür sie war viel zu flink unterwegs. Nach
einer Weile wurde sie müde und ihr Jammern und Toben immer leiser. Als sie gar nicht mehr konnte, rief sie verzweifelt: „Bitte, bleibt doch endlich stehen.“
Dieses Mal gehorchte das bockige Schuhwerk und stoppte augenblicklich, so dass Nika fast auf die Nase fiel.
„Und jetzt?“, maulte sie. „Wie komme ich wieder nach Hause? Bringt mich gefälligst zurück!“ Nichts geschah, auch wenn Nika laut schimpfte und hin und her stapfte. Dann blieb sie stehen, um
nachzudenken.
„Bitte“, sagte sie ganz leise. „Bringt mich bitte heim.“
Sofort marschierten die Stiefelchen los und im Nu kam Nika wohlbehalten zuhause an, wo sie die Stiefel im Flur abstellte und in ihrem Bett verschwand. Sie nahm sich vor, dieses kleine Zauberwort
öfter zu benutzen. Wenn sogar bockige Stiefel darauf hörten ...
© 2020 Anathea Westen (Lipperland)
Die blauen Winterstiefel
„Mama, mir tun die Füße weh! Ich glaub, meine Stiefel sind zu klein.“ Die Winterschuhe in den Händen betrat Ely die Küche, wo ihre Mutter gerade das Abendbrot zubereitete.
„So schnell wächst du auch wieder nicht. Deine Stiefel haben wir dir im September für den Schulanfang gekauft und ich kann mir nicht vorstellen, dass in drei Monate deine Füße größer geworden
sind. Ich weiß, was du willst und meine Antwort lautet Nein.“
„Aber alle haben blaue Stiefel mit einer Schneeflocke auf der Seite.“
„Nein bedeutet nein. Die sind zu teuer.“
Ely zog eine Schnute. Das fand sie so was von unfair. Alle Mädchen hatten diese blauen Stiefel mit der Schneeflocke. Nur sie lief mit grauen Winterstiefel durch die Gegend. Ely verschränkte die
Arme vor der Brust. „Kann ich sie für Weihnachten haben?“
„Der Weihnachtsmann erfüllt Herzenswünsche. Diese Stiefel willst du nur haben, weil es gerade modisch ist.“
Ihre Mutter hatte recht. Aber das wollte Ely nicht zugeben. Nach dem Essen ging sie nach draußen und suchte den klaren Nachthimmel nach einer Sternschnuppe ab.
„Hilfe!“ Ely wand sich zum Bürgersteig. Eine alte Dame versuchte mit dem Gehstock ihre heruntergefallene Handtasche aufzuheben. Rasch eilte Ely dorthin und hob die Tasche auf.
„Danke Kind.“ Sie reichte Ely ein Blatt, auf dem Schneeflocken aufgeklebt waren und verschwand.
Später bewunderte Ely ihre grauen Stiefel, die ihr, wenn sie ehrlich war, gut gefielen. Sie klebte die Flocken darauf und in dem Moment wusste sie, dass Zusammen-Sein mehr war, als modische
Sachen anzuhaben.
© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)
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