Sternenbäume
Es war stockfinster, als er nach der langen Nachtschicht mit müden Schritten heimwärts stapfte. Sein Kollege hatte ihn wie immer an der Landstraße abgesetzt, und er ging den letzten Kilometer bis
zu dem abgelegenen Haus zu Fuß. Er betonte gern, dass dieser kurze Marsch sein Ausgleich zu einer stressigen Schicht sei, doch eigentlich zögerte er auf diese Weise das Heimkommen hinaus.
Dort gab es niemanden mehr, der das Haus festlich schmückte, Kugeln, Kerzen und Lametta an einem Weihnachtsbaum befestigte.
Seine Frau Anke war vor fast zehn Jahren verstorben, doch solange die Kinder noch bei ihm lebten, hatte er die Einsamkeit in seinem Herzen beiseiteschieben können. Jetzt studierte Jasmin in
Colorado und Timo nahm an einem Training der ESA teil, um später einmal seinen Traum von einem Weltraumflug wahr werden zu lassen.
Er lächelte bei diesem Gedanken und blieb bei den gewaltigen Eichen stehen, die über das Haus zu wachen schienen. Auf ihren Ästen hatte sein Sohn stundenlang gesessen, nachdem er das Sternenzelt
für sich entdeckt hatte.
Er hob den Kopf, schaute hinauf in die kahlen Baumkronen und blinzelte überrascht. Schwarz zeichneten sich die Äste vor dem dunklen Himmel ab, ein Sinnbild für diese Jahreszeit, in der man so
vieles entbehren musste. Doch überall zwischen den Zweigen funkelten Lichter, und so erschienen die beiden alten Bäume wie mit kostbaren Edelsteinen geschmückt. Sein Lächeln vertiefte sich. Wer
brauchte schon Lichterketten, wenn unzählige Sterne am Firmament schimmerten und die Eichen prächtiger erscheinen ließen als jeden von Menschenhand dekorierten Weihnachtsbaum?
Er zumindest nicht.
© 2020 Anathea Westen (Lipperland)
Kurz Schluss
Helles, blinkendes Licht stach mir ins Auge. Genervt drehte ich mich um, wünschte mir zum x-ten Mal, die Rollläden wären repariert und die Vorhänge dunkler. Seit heute strahlte die
gegenüberliegende Wohnung wie tausend Sonnen. Rentiere mit rotblinkenden Nasen bevölkerten das Garagendach, grelle, weiße LED-Lichterketten waren bis an die Spitze um die acht Meter hohen Tanne
gewickelt, Schneemänner winkten fröhlich in eigentümlichem, bläulichem Licht im Vorgarten und ein dicker Strahler projizierte Glocken auf die reinweiße Fassade. Schon längst empfand ich keine
Schadenfreude mehr, wenn ich an die Stromrechnung dachte. Selbst wenn die im astronomischen Bereich liegen würde. Ich wollte nur eins. Schlafen. Dazu brauchte ich Dunkelheit. Die Straßenlaterne
nervte mich schon genug, ich brauchte nicht noch ein Haus, dass mehr Lichter als die Schober Messe aufwies. Eine Lösung musste her.
In Trainingsanzug ging ich beim Nachbarn läuten. Mit einer weiteren Lichterkette auf dem Arm, einem Kabelbinder im Mund öffnete er mir die Tür.
„Entschuldigen Sie bitte, ich muss morgen früh raus, könnten Sie nicht ihre Beleuchtung reduzieren?“
„Nhmm. Geh Sie! Mammh, wat I mmhill! KurzmmmmhSchluss!“
Damit ging er an mir vorbei, als sei ich Luft.
„Bitte! Ich arbeite im OP. Da muss ich konzentriert sein.“
„Mhh egl!“ Er meinte es ernst mit seinem kurzen Schluss und ignorierte meine Bitte. Unbekümmert nahm er seine in Plastik verhüllte Tischsteckdose und steckte die zusätzliche Kette an. Funken
stoben aus der Dose, ein Geruch nach verbranntem Plastik stieg in die Luft. Tiefe Dunkelheit legte sich über die Wohnung.
Ich jubelte. „Kurzschluss. Gute Nacht.“
© 2020 Lucy Engel (Luxembourg)
Engelsgesang
Dieses Jahr ist alles anders. Betrübt sitzen die Kinder der Sonntagsschule mit gebührendem Abstand und Masken im Gemeindesaal.
„Wir haben doch immer kurz vor Weihnachten bei den alten Leuten gesungen“, sagt Fanny, „und mir hat das stets Spaß gemacht, weil die sich so da drüber freuen.“
„Tja, wir können unmöglich in die Häuser, das ist sicher. Die Senioren gehören zur Risikogruppe. Selbst der Weihnachtsgottesdienst wird nicht wie gewohnt stattfinden. Auch hier ist das Singen
untersagt“, erklärt eine der Lehrerinnen.
„Ich hasse Corona“, sagt Agathe und verschränkt trotzig die Arme.
Fanny geht das Thema nicht aus dem Kopf. Sie sitzt in ihrem Kinderzimmer und grübelt über dem Problem. Dann hat sie die zündende Idee. Sie läuft zu ihren Eltern und bittet sie um
Unterstützung.
Am vierten Adventswochenende ist es so weit. Warm angezogen und mit gelben Warnwesten, finden sich die Kinder der Sonntagsschule abends vor der Kirche ein. Die Büchlein mit den Liedtexten werden
ausgeteilt und zusätzlich gibt es kleine Metalllaternen, in denen ein Teelicht brennt.
Die Liste der Gemeindemitglieder, die nicht mehr in der Lage sind, am Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen und deshalb zu Hause aufgesucht werden, ist länger als die Jahre zuvor. Im Gemeindeblatt
war die Aktion angekündigt worden und so wird die Gruppe von den Angehörigen erwartet.
Die aufgrund der Abstandsregeln auseinandergezogene Reihe der Kinder und ihrer Begleitpersonen, gleicht einer Lichterkette. Die Fenster werden weit geöffnet und die Weihnachtslieder im Freien
vorgetragen. Der Klang der Kinderstimmen hallt durch den Ort und erfreut erstmals alle Bewohner der kleinen Gemeinde gleichermaßen.
© 2020 Flora MC (Alsace)
Der Abendspaziergang
„Schaut mal. Sie haben hier ein Weihnachtsdorf aufgebaut. Da fährt sogar eine Lokomotive“, Thea zeigt Paul und Sarah das geschmückte Schaufenster vom Schuhmacher.
„Papa, baust du auch mit mir meine Bahn wieder auf und spielst mit mir?“, fragt Paul und sieht seinen Vater mit bittenden Augen an.
„Das machen wir morgen Vormittag. Aber jetzt gehen wir mal weiter. Mir wird langsam kalt.“ Er zieht den Kragen hoch.
„Kommt wir gehen zum Brunnen, da soll ein Weihnachsmann mit Rentieren und beleuchteten Christbämen aufgebaut sein.“ Mama zeigt nach vorne in Richtung der Fußgängerzone.
Gemeinsam schlendern sie bei den geschmückten Geschäftsauslagen entlang. Sie biegen in die Fußgängerzone ein, die durch die großen Lichterketten, die von einer Hausseite zur anderen Hausseite
hängen, beleuchtet ist.
„Dürfen wir vorlaufen zum Weihnachtsmann?“, fragt Sarah.
„Macht nur. Aber bleibt in der Nähe vom Brunnen“, ruft Papa ihnen nach.
Die Beiden folgend den Kindern in langsamen Schritten.
„Es ist alles so schön beleuchtet wie jedes Jahr. Aber wir sind fast alleine unterwegs. Sonst ist der Teufel hier zur Weihnachtszeit los.“ Sie seufzt.
Er zieht Thea an sich heran. „Es ist eine besondere Zeit dieses Jahr. Aber wir machen uns zu viert besonders schöne Weihnachten.“
Sie schlingt ihre Arme um ihren Ehemann und küsst ihn leidenschaftlich.
„Mama, Papa. Wo bleibt ihr denn?“, ruft Sarah.
Thea stöhnt auf. „Wir kommen gleich.“
„Dann beginnen wir gleich mit unseren besonderen Weihnachten und holen unser beide Rapauken ein.“ Er sprintet los und zieht Thea mit.
© 2020 Sandra Novak (Wien)
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